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Starthilfe für starke Kids
Mit den 8samkeitsgruppen bietet die Alte Feuerwache benachteiligten Kindern eine Chance auf eine normale Entwicklung. Der Förderverein Chance_8 will die Zukunft des Projekts langfristig sichern.
„Bin ich blond?“, fragt die 12-jährige Cheyenne, die heute ihren Geburtstag feiert. „Nein“, antworten die anderen Kinder, die ebenfalls am Tisch sitzen. Jetzt ist der nächste an der Reihe, so lange bis der oder die Fragende den Namen errät, der am Stirnband auf einem kleinen Zettel geschrieben steht. Das Spiel heißt Headbandz und es ist eine leicht abgewandelte Form des bekannten Ratespiels „Wer bin ich?“ Von der Zimmerdecke hängt eine bunte Girlande. Auf dem Tisch steht eine Karaffe mit kaltem Wasser und frischen Zitronenscheiben. Es ist ein lauer Spätsommertag. Das weiße Regal neben der Tür ist gefüllt mit weiteren Brettspielen. Alles wirkt, als würde man einem ganz normalen Kindergeburtstag beiwohnen. Es wird viel gelacht, manchmal auch gestichelt. Ein Junge ist offensichtlich sehr aufgedreht, wirkt unruhig und redet laut. Ein anderes Mädchen, nennen wir sie Maja, ist auffallend still, beobachtet ihre Mitspieler, mischt sich nicht ein. Die gesamte Situation ist genau das, was man bei einem Kindergeburtstag erwarten würde. Doch wir sind hier nicht in einem privaten Kinderzimmer. Der Raum wurde auch nicht für die Feier angemietet. Er wurde von der Alten Feuerwache für bereitgestellt. Willkommen bei der 8samkeitsgruppe.
Die sechs Kinder am Tisch gehören zu einer dieser Projektgruppen, bei denen es darum geht, sozial und emotional benachteiligten Kindern eine verlässliche Umgebung, einen Zufluchtsort und feste Strukturen zu geben, die sie zu Hause nicht haben. Viele Familien in der Wuppertaler Nordstadt haben mit Armut zu kämpfen, mit Suchtproblemen oder anderen Krankheiten. Die Liste an Gründen für die Vernachlässigung des Familienlebens ist lang. Die Leidtragenden sind oft die Kleinsten. Hier können sie sein, was sie sind: Kinder. Die meisten kommen direkt nach der Schule zur Alten Feuerwache. Und das beinahe jeden Tag. Begleitet werden sie von den pädagogischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die als Ansprechpartner und Weggefährten bereit stehen. Der heutige Geburtstagsnachmittag wird von Jihan Rafaan (23) begleitet. Die junge Frau ist schon seit 2017 dabei. Aufgewachsen ist sie in den Niederlanden, dort hat sie auch ihre Erzieherinnenausbildung absolviert. Über zwei Jahre hat es gedauert, um ihren Abschluss in Deutschland anerkennen zu lassen, sagt sie. Solche bürokratischen „Hürden“ kennt Jana-Sophia Ihle gut. Zu gut.
Familienschicksale
Als pädagogische Leiterin der Alten Feuerwache hat die 47-Jährige ständig mit den langsamen Mühlen der Bürokratie zu kämpfen. Eine echte Geduldsprobe, besonders wenn es – wie so oft – um Familienschicksale geht. Ihle erzählt von einem Fall, der ihr besonders nahe gegangen ist. Dabei geht es um einen damals sechsjährigen Jungen und seinen quälend langen Weg aus einem Flüchtlingscamp in Somalia: „Die Eltern sind aus Eritrea geflüchtet und mussten Sammy (Name geändert) bei ihrer Flucht nach Europa im Camp zurücklassen, weil das angesparte Geld nur noch für die Weiterreise der jüngeren Tochter reichte.“ Sammy musste zwei Jahre lang unter schrecklichen Bedingungen in dem Camp ausharren. Einzige Bezugsperson während dieser Zeit war die ebenfalls minderjährige Tante. „Auffällig war am Anfang die kleinere Tochter, die im Kulturkindergarten der Feuerwache untergebracht war, und kein Wort sprach.“ Das kleine Mädchen hatte die Trennung von ihrem Bruder emotional nicht verkraftet und so wurde das Team der Alten Feuerwache auf den Fall aufmerksam.
Heute, nach etwa zwei Jahren in Wuppertal, ist Sammy wie verwandelt. „Er hat innerhalb von kürzester Zeit Deutsch gelernt und ist richtig aufgeblüht“, sagt Jana-Sophia Ihle. Auch die Eltern hätten nach dieser schweren Zeit nun wieder einen Grund, positiv in die Zukunft zu blicken. Das ist nur eine von vielen Erfolgsgeschichten – aber auch Familienschicksalen –, die Ihle erlebt hat. Letztlich kämen diese Erfolge nicht nur den Familien zugute, „sondern auch der Gesellschaft, die heute mehr denn je auf starke Kinder und Jugendliche angewiesen ist." Vor allem mit Blick auf den demografischen Wandel in unserem Land. Die 8samkeitsgruppen der Alten Feuerwache sind aber nicht nur subjektiv eine gute Sache. Die Effektivität des Projektes wurde auch von einem internen Evaluationsrat wissenschaftlich nachgewiesen.
Stabile Beziehungen
Im Zuge der Evaluation wurden umfangreiche Studien durchgeführt, die die Kinder vor allem in Bezug auf ihre Stressvulnerabilität, Stressbewältigungsstrategien und ihr Depressionsaufkommen untersuchten. „Stress ist ein enorm wichtiger Faktor in der kindlichen Entwicklung“, so Ihle. Die Symptome von Stress können sich in verschiedenen Formen äußern. Zum Beispiel in Traurigkeit, Einsamkeit, Wut und depressiver Stimmung oder auch Kopf- und Bauchschmerzen, Schlaflosigkeit oder Essstörungen.
Bei den Kindern aus der untersuchten 8samkeitsgruppe konnten bereits nach zwölf bis fünfzehn Monaten signifikant verbesserte Ergebnisse in den klinisch relevanten Tests festgestellt werden: Das Stress- und Depressionserleben der Kinder nahm deutlich ab. „Die Kinder erleben hier verlässliche Beziehungen und lernen in der Gruppe wichtige Regeln. Das mindert den Stress“, so die Leiterin. Und warum müssen es genau acht Teilnehmende sein? Diese Größe habe sich in der langjährigen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als optimal herausgestellt, schildert Ihle. Nicht zu viel, nicht zu wenig.
Ein weiterer Beleg für den Erfolg des Projekts sind diejenigen, die selbst ein Teil davon waren. „Wir haben zu vielen Ehemaligen Kontakt. Einige engagieren sich heute sogar selbst in der Alten Feuerwache“, sagt Ihle, die hier bereits seit 15 Jahren tätig ist. Die Wuppertaler Nordstadt – mit ihren vielen Problemen – kennt sie aus eigener Erfahrung. Hier hat sie nämlich selbst ihre Kindheit und Jugend verbracht. Die Alte Feuerwache war schon damals eine feste Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Und die haben sich in den letzten Jahren weiter verschlimmert, so die Leiterin.
Türöffner
Der 2022 gegründete Förderverein Chance_8 verfolgt das Ziel, die 8samkeitsgruppen langfristig zu sichern. Gründer und Vorstandsvorsitzender Rainer Giehler ist davon überzeugt, „dass dieses Projekt eine wirkliche Chance für sozial und emotional benachteiligte Kinder bedeutet.“ Dabei ist es ihm auch ein Anliegen, das Engagement weiter auszubauen. So geschehen mit der 2023 gestarteten Aktion namens „Türöffner“. Die Idee dahinter: Kinder und Jugendliche aus der Alten Feuerwache besuchen regionale Unternehmen im Rahmen einer Art Tag der offenen Tür. Die Resonanz ist überwältigend. Rund 20 Firmen hatten sich im April im Rahmen einer Kickoff-Veranstaltung bereit erklärt, einen solchen Tag zu realisieren. Eingeführt wurden sie dabei übrigens von dem Schauspieler-Ehepaar Ann-Kathrin Kramer und Harald Krassnitzer, die die Schirmherrschaft des Vereins übernommen haben. Zum ersten Türöffner-Tag Anfang September begrüßte die Deutsche Bank eine Gruppe ausgewählter Kinder, die von diesem Blick hinter die Kulissen sichtlich begeistert waren. Auch einige der heute anwesenden Geburtstagsgäste waren dabei. „Am besten hat mir der große Tresor gefallen“, sagt Cheyenne, die eigentlich einen anderen Namen hat.
Die muntere Geburtstagsrunde hat derweil ihr Spiel beendet. Alle Kinder haben den richtigen Namen erraten. Erzieherin Jihan hatte ausschließlich Namen von Personen aus der Alten Feuerwache auf die Schildchen geschrieben. Denn die sind für die Kinder so etwas wie eine zweite Familie geworden.
Text: Marc Freudenhammer
Fotos: Afi