wsw.info: Lady Frankenstein

Volldampf voraus

Als Lady Frankenstein begeistert die Steampunk-Künstlerin Mehtab „May“ Altay die Community im Netz mit ihren Kreationen. Eine von ihr entwickelte Alien-Maske machte sogar in den USA die Runde. Ein Besuch im Steampunk-Wunderland.

 

Zwei tiefenentspannte Katzen namens Sherlock und Watson lümmeln sich auf einem riesigen Kratzbaumgebilde, das vor dem Fenster platziert ist. In einer Ecke steht ein Terrarium, darin schlängelt sich eine ausgesprochen neugierigen Kornnatter. In einer anderen Ecke lodert ein Kaminfeuer und wärmt den urigen Küchenraum im Erdgeschoss. Über der Tür hängt ein riesiger Käfig, in dem zwei Chinchillas leben. Auf einem kleinen Holztisch am Fenster stapeln sich diverse Werkzeuge und Utensilien: ein Handschleifer, eine Heißklebepistole, Reste von Modelliermasse. Zwei mit rotbraunem Kunstfell bezogene Teile warten nur darauf, mit stabilem Draht zu einer schaurig kuscheligen Grinsekatze (Cheshire Cat) zusammengefügt zu werden.

 

 

Das Geschöpf aus Lewis Carrolls berühmtem Kinderbuch Alice im Wunderland gehört zu May Altays Lieblingsfiguren, sie hat bereits mehrere Variationen davon angefertigt. Bis zu hundert Stunden Arbeitszeit stecken in jeder ihrer Kreationen. May – in der Steampunk-Szene besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Lady Frankenstein – lebt und arbeitet in diesem Hinterhaus im Stadtteil Barmen. Früher sei das Gebäude eine Lichtpausanstalt gewesen, erklärt ihr Lebensgefährte Peter Wohlers. May tüftelt und bastelt für ihr Leben gern, bereits in der Kindheit hat sie Modelle von Fabelwesen angefertigt. „Mein allererstes war ein 1,50 Meter langer Fuchur, eine der Hauptfiguren aus Michael Endes Die unendliche Geschichte.“ Lady Frankenstein dokumentiert ihre Arbeitsfortschritte akribisch und teilt diese mit Gleichgesinnten im Internet. Dafür hat sie extra eine eigene Facebook-Seite eingerichtet, über die sie ihre rund 6 000 Abonnenten auf dem Laufenden hält. Die Do-it-yourself-Mentalität ist in der Szene sehr ausgeprägt.

Wohnung Lady Frankenstein

 

Zeitreise

Die 47-Jährige ist gewissermaßen selbst ein Gesamtkunstwerk: giftgrüne Dreadlocks, ein eng geschnürtes Lederkorsett und eine hellbraune Lederhose, Halbfingerhandschuhe, ein bunter Schal, ein Monokel und diverse andere Schmuckaccessoires, die ihrem Look den letzten Schliff verleihen. May und ihr Partner lieben und leben Steampunk. Unter diesem Schlagwort zelebriert eine ganze Subkultur einen Stil, der grob als Mischung aus Retro und Futurismus beschrieben werden kann. Steampunk ist gewissermaßen eine Reise zurück in eine Zeit, die es so nie gegeben hat. Eine fantastische Alternativwelt, die beschreibt, wie sich die Zukunft aus der Perspektive der Menschen aus dem 19. Jahrhundert entwickelt haben könnte. Wichtige Elemente sind dabei beispielsweise Dampfmaschinen (Steam = Dampf), Schweißerbrillen, Zahnräder in allen möglichen Varianten und Größen, Oktopusse sowie ein Kleidungsstil, der sich an der Mode im viktorianischen Zeitalter orientiert. Fast alle Kostüme werden in Eigenregie genäht oder zumindest individuell angepasst. Auch funktionsfähige Fantasie-Gerätschaften werden angefertigt. Gerne verwendete Materialien dafür sind Kupfer, Eisen, Messing, Holz und Leder.

Zahnräder

Sie sind der Inbegriff der Mechanik und unverzichtbar in der Steampunk-Szene. Zahnräder werden gerne als Deko-Objekte an Hüten, Taschen oder Kleidern eingesetzt.

Entstanden ist die Strömung Anfang der 1980er Jahre unter dem Einfluss der Bücher von Jules Verne und H. G. Wells wie zum Beispiel „20.000 Meilen unter dem Meer“ oder „Die Zeitmaschine“. Bis vor einigen Jahren zählten May und ihr Partner sich noch zur Mittelalterszene, der Wechsel zum Steampunk hat einen entscheidenden Grund: „Im Steampunk kann man sein, was man will“, so die gebürtige Wuppertalerin. Der Fantasie seien dabei keine Grenzen gesetzt, in der Welt der Mittelalter-Fans dreht sich alles um Authentizität.

Goggles

Eine Art Schweißerbrille, die als Steampunk-Accessoire sehr beliebt ist. Oft wird diese einfach am Hut - gerne auch Zylinder - befestigt getragen

„Andere gehen ins Schuhgeschäft, ich lieber in den Baumarkt, da kann ich Stunden verbringen“, sagt May. Dass es sich bei der Obsession der beiden um mehr als nur einen Trend handelt, beweist auch ein kurzer Besuch der oberen Etage. Hier bewahrt die Künstlerin alle ihre selbstgemachten Schätze auf: fantasievoll verzierte Hüte und zahlreiche Kostüme mit irrwitzigen Applikationen aus Kupfer, eine umgebaute Kristalllampe und jede Menge Schmuck sowie zig andere Accessoires. „Das hier ist der Schallschraubenzieher von Dr. Who“, sagt May und präsentiert eine längliche Apparatur, die auf Knopfdruck eine Leuchtdiode ausfährt. Das Grundgerüst habe sie gekauft, die Kunststoffteile wurden dann gegen echte Kupferteile ausgetauscht. Ein anderes Glanzstück ist ihr sogenannter Oktynder - ein Zylinder, der aussieht, als wäre er mit einem Oktopus aneinandergeraten.

Wenn Lady Frankenstein über ihre Arbeit spricht, sprudelt die Begeisterung nur so aus ihr heraus. Man spürt geradezu, wie sehr ihr Herz an den eigens entwickelten Kreationen hängt, die sie mit viel Geduld und Köpfchen anfertigt. Als gelernte Zahntechnikerin verfügt sie praktischerweise über das nötige Know-how, um die teilweise komplexen Modelle zu realisieren. Dabei wirkt das Ergebnis ihrer Arbeit immer absolut professionell und erinnert eher an original Filmrequisiten denn an Hobbybastelei.

Steampunk

Eine Subkultur, die sich auf die Sci-Fi-Werke der Autoren Jules Verne und H. G. Wells bezieht. Mit Romanen wie „20.000 Meilen unter dem Meer und Die Zeitmaschine“ entwickelten sie eine neuartige Spielart des Science-Fiction-Genres.

 

Nachricht aus den USA

Eine ihrer wohl bekanntesten Schöpfungen ist eine monströse Facehugger-Maske, die den furchteinflößenden Gestalten aus dem Science-Fiction-Film Aliens nachempfunden ist. Fotos von der Maske machten – passend zur Corona-Zeit – die Runde im Netz und wurden tausendfach geteilt. Letztlich wurde man sogar in den USA auf das einmalige Stück aufmerksam. Ein Sci-Fi-Fernsehsender meldete sich bei dem Wuppertaler Pärchen und sendete schließlich ein Interview. „Das war absolut verrückt, da hätte ich nie mit gerechnet.“ Am Ende wurde die handgemachte Maske für einen dreistelligen Betrag über Ebay an einen kalifornischen Chirurgen verkauft, erzählt May. Auf eines legt die Künstlerin dabei besonders großen Wert: Es handelt sich bei allen Arbeiten um Einzelanfertigungen, eine Serienproduktion kommt für sie nicht infrage. „Mir geht es um die Vielfalt und darum, meine Fantasie auszuleben“, sagt sie. Immer wieder dasselbe zu produzieren würde diese Leidenschaft zunichte machen.

 

Cheshire Cat

Ein Fantasiewesen aus Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice im Wunderland“.


Kostüme, Requisiten und das ganze Drumherum – dafür lebt die Künstlerin. Klingt fast so, als ob sich die beiden Steampunk-Fans auch im Karneval wohlfühlen würden. Dem widerspricht Lady Frankenstein vehement: „Karneval ist gar nichts für mich. Aber ich liebe Halloween.“ Die eingangs erwähnte Grinsekatze mit braunem Fell stellt May übrigens für eine gute Freundin her. Da sie ihre Kreationen in der Regel nicht verkauft, bekommt sie im Austausch dafür ein neues Steampunk-Kostüm, das extra für sie angefertigt wird. Denn: Nähen zählt eindeutig nicht zu Lady Frankensteins Lieblingsbeschäftigungen.


Text: Marc Freudenhammer