Freizeit: Wuppertals Treppen
Mit weit mehr als 500 Treppen hält Wuppertal deutschlandweit den Rekord in Sachen stufige Auf- und Abstiege. Einige besondere Exemplare stellen wir ab sofort in loser Abfolge vor.
Den Anfang unserer Treppen-Reihe macht das Tippen-Tappen-Tönchen, denn nach Einschätzung vieler Experten wie auch Laien ist diese Treppe die bekannteste, vielleicht sogar die beliebteste der Stadt. Das will etwas heißen, immerhin gibt es laut Thorsten Warning vom städtischen Ressort Straßen und Verkehr allein in Elberfeld 175 öffentliche Treppen. Zusammen mit weiteren 82 in Barmen macht das mehr als die Hälfte der Gesamtsumme öffentlicher Treppen, exakt 469, aus.
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Stufen aus Beton führen vom Luisenviertel ins Wohnviertel Ölberg.
Die Antwort auf die Frage, warum das Tal der Wupper so reich an Stufen ist, liegt nahe. 12.383 Stück sind es gemäß jüngster städtischer Zählung vor rund zehn Jahren, die privaten Anlagen nicht mitgerechnet, wie Warning sagt. „Die Anzahl entspricht einer Lauflänge von 4 516 Metern und einem Höhenunterschied von 2 167 Metern.“ Vergleichbar mit einigen Alpengipfeln also. So imposant wie das europäische Gebirge ist die bergische Landschaft der Stadt freilich nicht. Doch trotzdem brauchte es früher den Einbau von Treppen in die Hänge entlang der Wupper, an der sich in der ersten wirtschaftlichen Blütezeit im 19. Jahrhundert zahlreiche Firmen niederließen sowie dort ansässige Unternehmen expandierten.
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mal wechseln Fußgänger beim Benutzen der Treppe die Richtung, bis sie oben oder unten angelangt sind.
Treppen für die Arbeiter
„Die Entstehung der Wuppertaler Treppen ist unmittelbar verknüpft mit der industriellen Entwicklung der Stadt“, sagt Warning. Der Fluss war der wichtigste Wasser- und Energielieferant für die Produktion. Der Platz für die wachsende Arbeiterschaft in der Talachse wurde knapp, Wohnraum auf das teils steil ansteigende Umland ausgeweitet. Warning: „In den 50er und 60er Jahren erlebte die Industrie vor Ort durch den Wiederaufbau eine zweite Blüte. Wieder entstand ein enormer Bedarf an Arbeitskräften.“ Und wieder entstand neuer Wohnraum im Umland, für den zahlreiche weitere Treppenanlagen erschlossen wurden.
1920
wurde die Treppe erbaut. 1974 erhielt sie ihren offiziellen Namen. Im Jahr 1997 wurde das Tippen-Tappen-Tönchen aufwendig saniert.
Von der Straße Am Kasinogarten führt das Tippen-Tappen-Tönchen hinauf zur Zimmerstraße und verbindet so das multikulturelle Luisenviertel als Ausgeh-Location mit dem ehemaligen Arbeiter- und heutigem Wohnviertel Ölberg. Von unten weist derzeit kein Schild auf die 1974 offiziell benannte Treppe hin – vermutlich hängt es unerlaubt bei einem Fan im Wohnzimmer; Schilderklau kommt laut Stadt im Tal immer wieder vor. Bis 1974 jedenfalls hatte der Treppe ihr Name scherzhaft angehaftet, er beschrieb das Klacken der holzbesohlten Schuhe der Proletarier, die zu Beginn und zum Ende eines jeden Arbeitstages die Stiegen nahmen, unter denen sich Hohlräume wie Klangkörper verhielten. Nur am oberen Ende des Tippen-Tappen-Tönchens zeigt sich das lautmalerische Konstrukt in Buchstaben.
Rosen, Lamellen und Graffiti
Schon das Ansteuern der Treppe erfordert Kondition, denn vor Betreten der ersten Stufe geht es zunächst mit mehr oder weniger 95 Schritten den steilen Berg hinauf. Die expressive Umgebung umrahmt den Marsch, romantisch auf der einen, herb auf der anderen Seite. Links ranken sich blühende Rosen um die grün gestrichene Tür eines Schieferhauses. Weiter oben dringen Worte durch ein geöffnetes Fenster, italienisch klingend. Rechts: graue Wand, rostige Lamellen, Backsteine, Graffiti. Ein hoch aufragender Plattenbau, dahinter in der Ferne, wie als harmonisierendes Element, der Turm des neuen Elberfelder Rathauses.
Kulisse
In der deutschen Kriminalkomödie „King Ping – Tippen Tappen Tödchen“ (2013, Darsteller: u. a. Christoph Maria Herbst) wurde die Treppe als Filmkulisse genutzt und sogar im Titel verewigt.
Am diesem Sonntagabend besteigen die Menschen die Treppe gemächlich. Manch einer keucht dennoch leise. 103 Stufen und zehn Richtungswechsel sind es, bis man oben steht, vorbei an mehr Graffiti, einem verwunschenem Weingärtchen, in dem engagierte Anwohner Reben pflegen, einer Bank auf halber Höhe, voll mit Aufklebern. Und noch mehr Graffiti, etwas kleiner diesmal. Ein paar Jugendliche nutzen die Sitzgelegenheit, hören Musik und Zigarettenrauch steigt auf.
Kräftezehrender Aufstieg
Es tippt und tappt nicht. Nicht hölzern. Die meisten, die zu dieser Stunde die Stufen erklimmen, tragen leichte Sneakers, an Holzschuhe erinnert nur noch der Treppenname. Ganz oben, ans stählerne Geländer gelehnt, verschnauft eine Frau, blickt in die Ferne. Auf die beiden Türme der Laurentiuskirche und auf die Bergische Uni am Horizont. In den Wolken brummen Flugzeuge, aus den umliegenden Baumwipfeln zwitschert es. Einige Pkw fahren von der Gertruden- in die Zimmerstraße, die Motorengeräusche mischen sich mit den Glockenschlägen der umliegenden Kirchen. Drei unterschiedliche Tonfolgen. Neben Sankt Laurentius liegen unter anderem die Sophien-, City- und die Kirche am Kolk in unmittelbarer Nähe, nördlich Friedhofs-, die Herz-Jesu- und die Diakoniekirche.
Besonders wie keine Zweite
Wer sich darauf einlässt, die Treppenanlage wie eine Art Graffiti-Galerie zu betrachten, entdeckt mitunter Geschichten. Einige Motive tauchen an mehreren Stellen auf, ein weißes Männchen etwa. Ein rot gesprühtes Herz wirkt wie der Gruß eines geliebten Menschen, ein gelber Smiley scheint noch einen fröhlichen weiteren Weg zu wünschen.
Die Benennung der anliegenden Straße Am Kasinogarten nach ihrer Treppe lehnten Anlieger vor vielen Jahren ab. Vielleicht gut so: Denn so bleibt der Name wie auch die Treppe selbst – öffentlich besungen, professionell gefilmt, als Veranstaltungsort genutzt und mit eigenem Wikipedia-Eintrag – ein Unikum im Tal und darüber hinaus.
Text: Tonia Sorrentino