Kultur: Interview mit Adolphe Binder
Adolphe Binder soll das Repertoire Pina Bauschs lebendig halten, aber auch durch Neuinszenierungen die Compagnie in die Zukunft führen – ein Spagat, der Mut verlangt. Den scheint die 48-Jährige mit rumänischen Wurzeln zu besitzen.
Frischer Wind beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch: Seit Mai 2017 ist Adolphe Binder die neue künstlerische Leiterin. Seit dem Tod der großen Choreografin 2009 ist Binder die erste externe Intendantin. Sie nennt sich Tanzkuratorin, choreografiert nicht selbst, sondern lädt andere Choreografen ein, mit den Wuppertaler Tänzern zu arbeiten. Zuletzt leitete sie das Ballett in Göteborg.
Was ist Ihre dringlichste Aufgabe in der ersten Spielzeit?
Es geht um Sinn- und Identitätsfragen, Reflektionen und Perspektiven der Neupositionierung. Wir werden einen evolutionären Prozess einleiten, der die fernere Zukunft bereits jetzt ins Auge fasst, nicht nur in Spielzeiten denken, sondern schauen, wo wollen wir hin? Was bedeutet Tanztheater im 21. Jahrhundert? Wie sehen wir das Tanztheater in zehn, zwanzig Jahren? Was ist das Vermächtnis, die Essenz dessen, was Pina Bausch uns hinterlassen hat? Wie werden wir heute und zukünftig über Disziplinen hinweg denken und kreieren? Mit neuen Augen sehen lernen. Dass wieder neue Stücke entstehen, eine andere Schöpfungskraft eingebracht wird, trägt sicher dazu bei, das herausragende Werk von Pina Bausch kraftvoll zu halten.
Wonach haben Sie die beiden Gastchoreografen ausgesucht?
Es geht um Künstler mit einem starken Anliegen, die sich für Menschen interessieren, nicht allein für Bewegung oder technisches Können. Und um Künstler mit einer Intention, bei denen ich das Gefühl habe, sie können mit dieser Bandbreite im Ensemble umgehen und es schön in die Produktionen integrieren. Schließlich haben wir Tänzer im Alter von 23 bis 67 Jahren. Toll! Eigentlich müssten alle Compagnien so sein! Und letztlich brauchen wir auch Avantgardisten, die überraschen können.
Es ist ja ein ganz schöner Spagat zwischen dem Alten und dem Neuen. Wie viel Mut braucht man dafür – und wo nehmen Sie diesen Mut her?
Das steckt in mir und fühlt sich nicht so außergewöhnlich an, weil ich auch in vergangenen Jahren kreative Wagnisse eingegangen bin. Was neu ist, ist der intensive Blick von außen und die hohe Erwartungshaltung. Das Ensemble ist sehr offenherzig und hat große Lust. Es ist ja nicht immer das leicht zu Lösende, das einen zufriedenstellt und glücklich macht, sondern Erfüllung kommt doch, wenn man einen Vorsatz hat und die Hürden nimmt und daran wächst. Mut ist doch eigentlich etwas Essentielles. Wo, wenn nicht hier, dass es so passieren kann? Pina Bauschs Arbeit war radikal, mutig, sie ist an Grenzen gegangen, sie hat alle herausgefordert, auch die Zuschauer. „Das Fragen hört nicht auf, und die Suche hört nicht auf. Es liegt etwas Endloses darin, und das ist das Schöne daran.“ Das ist der Nachlass von Pina Bausch und mein Credo.
„Das Tanztheater Wuppertal wird immer die Compagnie sein, die Pina Bauschs Werk repräsentiert.“
Wissen Sie noch, welches Stück Sie als erstes von ihr gesehen haben?
Es waren „Palermo Palermo“ und „Kontakthof“. Ich habe immer alle Gastspiele in Berlin und in anderen Städten gesehen. War als Gastgeberin beteiligt, in Hannover, in Göteborg. Ich kam ja Mitte der 90er vom Schauspiel. Für mich war es interessant zu sehen, was es für unglaubliche Möglichkeiten der Erweiterung über das Schauspiel hinaus gibt, und so bin ich letztlich zum Tanz gekommen. Nicht nur über Pina Bausch, das wäre anmaßend zu sagen, aber über die Erfahrung mit Tanz und Tanztheater, mit Formen, die für mich neu waren. Das fand ich sehr inspirierend. Pina Bausch hat nicht nur weltweit andere Choreografen beeinflusst, sondern sehr viele Künstler, Filmemacher, Fotografen. Sie war ein Jahrhundertphänomen, das aus dieser Stadt hervorgegangen ist. Ein Kraftquell. Wir können ihre Energie als Motor und Ansporn nutzen.
Die Pina Bausch Stiftung vergibt nun zunehmend Stücke an andere Compagnien. Verliert das Tanztheater Wuppertal dadurch etwas von seiner Unverwechselbarkeit? Haben Sie da Sorge?
Überhaupt nicht. Das Tanztheater Wuppertal wird immer die Compagnie sein, die Pina Bauschs Werk repräsentiert. Wir beschäftigen uns ja hauptsächlich damit. Es hat auch mit einer Art von Individualität und Körperlichkeit zu tun, die sehr spezifisch ist und bestimmte „Inkubationszeiten“ braucht. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man sich gut abstimmt, welche Stücke woanders hinpassen. Dass das Werk von Pina Bausch in den Curricula von anderen Tänzern vorkommt und diese wachsen lässt, ist eine schöne Vorstellung. Dennoch Pina Bauschs Compagnie ist und wird das Tanztheater Wuppertal sein.
Wie wichtig ist für Sie, dass das Pina Bausch Zentrum im Schauspielhaus zustande kommt?
Wichtig! Denn wir brauchen einen eigenen Aufführungsort, ein ausgedehnteres Kreativzentrum, in dem sich Künstlerisches und Künstler verbinden können. Ich würde mir wünschen, dass wir weitere Möglichkeiten haben, uns zu öffnen, zu offenen Proben und Workshops einladen zu können, ein choreografisches Recherchelabor aus der Compagnie heraus zu gründen. Wuppertal muss ein Ort sein, wo Tanz wegweisend und lebendig ist. Die Stadt hat diese tolle Bühne (Schauspielhaus) mit Ausbaupotenzial, ein wunderbarer Ort für das PBZ.
Wie haben Sie Wuppertal bisher erlebt?
Offen. Mit dem vielen Grün und den Hügeln ist es sehr charmant. Die Leute sind einnehmend, das kann man nicht von jeder Stadt sagen. Das hört sich schmeichelnd an, aber ich meine das aufrichtig. Ich habe 18 Jahre Berlin erlebt (und liebe es), aber hier sind die Leute entgegenkommender, und das ist schon die halbe Miete. Offenheit, Neugier, Lust mit neuen Augen zu sehen, das ist Wuppertal, sonst wäre das doch alles nicht hier entstanden.